Textproben

Textproben aus: "Durst nach echter Heimat 1, Halte durch, Miriam"   

© Maria Jachin-Kay, erschienen im Frühjahr 2021 bei tredition GmbH.

Inhalt dieser Leseprobe:
1. Kapitel: Auf der Reise
2. Ein ungewöhnlicher Rettungseinsatz
3. Im Flüchtlingsheim der Insel


 

1. AUF DER REISE 

 

Abenteuerliche Flucht 

 

Die Sonne strahlte auf das tiefblaue, grenzenlos wirkende Meer. Sie beschien den versinkenden Mond ebenso wie die Vögel am Horizont und die Boote am Wasser. Ein frischer Wind milderte das warme Mittelmeerklima zur Frühlingszeit. 

   Auf offener See trieb ein altes Schiff. Es war mit Hunderten von Flüchtlingen überfüllt. Jene Männer, Frauen und Kinder waren voll Vorfreude, bald europäisches Land zu betreten. Dort erhofften sie sich ein besseres Leben als in den vom Krieg gebeutelten Stätten ihrer früheren Heimat. 

   Unter Deck, im Laderaum, hockte Miriam mit überkreuzten Beinen am Boden. Sie konnte sich kaum bewegen, denn rundum lagerten Menschen und Kinder. Ihre Mutter namens Sara ruhte neben ihr. Liebevoll betrachtete sie die siebenjährige Tochter, die sie gern »Miri« nannte. Trotz des erlebten Krieges und der Flucht sah die Kleine gut aus. Ihre braunen Augen leuchteten. Sie hatte ebenso dunkles Haar wie Sara. Miriams Locken waren aber länger; sie reichten ihr bis zur Rückenmitte. Sie vertrieb sich die Zeit mit Fingerspielen. Dabei summte sie ein Lied, das ihr der Vater oft vorgesungen hatte. Schade, dass er nicht mehr bei ihr war. 

   Die übrigen, am Boden hockenden Flüchtlinge aus Syrien und Afrika unterhielten sich leise. Ab und zu hörte man Babys schreien. Im dunklen Frachtraum gab es nur eine einzige Luke, die als Tür diente. Wie stickig war die Luft. 

   Miriam hörte die stöhnenden Atemzüge ihrer Mutter. 

   Diese sah sie an. »Komm, gehen wir von hier weg!«, seufzte sie. »Ich muss unbedingt an Deck, an die frische Luft, sonst halte ich nicht durch!« 

   Mit großer Mühe stand sie auf, denn sie war im achten Monat schwanger und hatte mehr zu tragen als nur ihr eigenes Gewicht. Vorsichtig kämpften sich die beiden durch die Menschenmenge, bis zur Luke, die zum Schiffsdeck führte. Doch der vom Kapitän versperrte Ausgang ließ sich nicht öffnen. 

   Miriam pochte kraftvoll dagegen. Sie sah Saras kreidebleiches Gesicht. 

»Lasst uns raus!«, rief sie verzweifelt. »Meine Mutter erwartet ein Baby. Sie braucht genug Luft zum Atmen, sonst fällt sie um!« 

   Nachdem das Mädchen, mit den Fäusten gegen die Tür hämmernd, zehnmal so gerufen hatte, öffnete endlich jemand spaltbreit die Luke. Ein bärtiger Matrose starrte die beiden grimmig an. 

   »Was wollt ihr denn?«, schrie er. »Gebt doch Ruhe!« 

»Bitte lassen Sie uns frische Luft schnappen!«, flehte Miriam. »Meine Mutter wird sonst ohnmächtig.« 

   Der Seemann musterte die stöhnende hochschwangere Frau. »Meinetwegen, ausnahmsweise!«, murrte er. »Da drinnen ist zu wenig Platz zum Kinderkriegen. Kommt schnell heraus!« Er schob die Tür weiter auf. 

   Gleich traten Miriam und ihre Mutter aufs offene Schiffsdeck hinaus. Unterdessen stieß der Matrose die nachdrängenden Flüchtlinge in den Laderaum zurück und versperrte die Luke. 

   Der Wind zerzauste die Haare der Befreiten. Wie angenehm war es, im Freien die Meeresluft zu atmen! Sara schöpfte tief Luft. Sie erholte sich von der Übelkeit. Ihr Gesicht bekam wieder eine rosige Farbe. Zusammen mit Miri schritt sie an vielen Passagieren vorbei. Die beiden stellten sich an die Reling. 

   Miriam beugte sich übers Geländer. Vor Freude, nicht mehr eingeschlossen zu sein, hätte sie gern laut gejubelt. Sie fürchtete aber die Strenge der Matrosen. So begnügte sie sich damit, Sara zu kosen und zu sagen: »Zum Glück sind wir heraußen, Mama! Wie schön doch das Meer ist!« Sie blickte in die Ferne. »Schau! Weit weg sieht man verschwommen das afrikanische Ufer.« 

   Die Mutter nickte lächelnd. Sie nahm Miriam an der Hand und führte sie zu einer langen grünen Bank in der Mitte des Schiffsdecks. Einige der vielen dort hockenden Leute rückten zusammen, um Platz zu machen. Sara und ihr Töchterchen setzten sich, ihre blauen, bis zu den Knöcheln reichenden Kleider glatt streifend. Miri schmiegte sich an ihre Mama. Das sanfte Schaukeln des Schiffes spürend, beobachtete sie die am Himmel vorbeiziehenden Vögel. 

   Plötzlich zogen dunkle Wolken auf. Ein heftiger Wind begann zu wehen und ließ hohe Wellen entstehen. Der knarrende alte Kahn schaukelte immer kräftiger. Miri und ihre Mutter taumelten zur Reling hin und hielten sich an der Stange fest. Mit Schrecken sahen sie einen stolzen Dampfer direkt auf sie zukommen. 

   Miriam ahnte die Gefahr. »Mama, ein Schiff steuert auf uns zu!«, sagte sie. «Warum weicht es nicht aus?« 

   Sara rief laut, den Lärm der Schiffssirene übertönend: »Vielleicht macht der dortige Steuermann Pause? Hoffentlich ist er nicht ohnmächtig geworden!« 

   Schon kam der Ozeanriese dicht heran. Ohne die Richtung zu ändern, fuhr er brummend, in einem ganz knappen Abstand, an ihnen vorbei. Miriam barg ihr Gesicht in Saras Armen. 

   Kurz darauf klammerte sie sich fester ans Geländer, denn der Boden schwankte. Voll Furcht rief sie: »Der Dampfer hat unser Schiff gerammt! Hilfe! Retten wir uns!« 

   Sara sah Rinnsale am Bretterboden. »Unser Kahn hat ein Leck!«, schrie sie. »Komm, rennen wir schnell von hier weg!« 

   Der Kapitän und sein Matrose machten ein Rettungsboot bereit. In Windeseile füllte es sich mit Passagieren des Flüchtlingsschiffes. 

   Miriam und ihre Mutter eilten Hand in Hand hin. Da Sara aufgrund ihrer enormen Leibesfülle nicht schnell genug laufen konnte, kamen sie jedoch zu spät. 

   »Warten Sie!«, schrie Miri. »Nehmen Sie uns mit! Lassen Sie uns nicht im Stich!« 

   Ihre Hilferufe verhallten im Wind. Der feige Kapitän fuhr mit den bevorzugten Passagieren fort. Er überließ die am lecken Schiff verbliebenen Menschen ihrem Schicksal. 

 

Tränen strömten über Miriams Gesicht. Ihre Angst stieg. Sie spürte, wie das steigende Wasser ihre Beine umspülte und kühlte. Sie stapfte zur Schiffsmitte hin. Dabei rutschte sie ein paarmal wankend ab. Der Kahn geriet immer mehr in Schräglage. Auch Sara hatte alle Mühe, nicht zu stürzen. 

   Aus dem verschlossenen Schiffsraum drangen grelle Hilfeschreie. Miri taumelte zur Luke hin. Doch sie schaffte es nicht, sie zu öffnen. 

   Da kamen Männer mit Äxten herbei. Sie befahlen ihr: 
   »Kleine, geh zu deiner Mutter! Bring dich in Sicherheit!« 

   Das ließ sich das Mädchen nicht zweimal sagen. 

Sara hatte unterdessen beim Heck zwei Rettungsringe und Schnüre gefunden. Besorgt rief sie ihr Kind herbei: »Miri, wo bist du? Komm zu mir, damit ich dich nicht verlier!« 

   Diese watete schon, durchs knietiefe Wasser, zur Mama hin. 

   Sara übergab ihr einen Rettungsring. »Binde ihn um, damit du nicht ertrinkst!«, befahl sie aufgeregt. 

   Sofort umgürteten sich die beiden. Die Mutter nahm eine Schnur zur Hand. Geschickt verband sie Miris Schwimmreifen mit dem ihren. Eben trieb am überschwemmten Schiffsboden eine Mineralwasserflasche. Miriam erhaschte sie und steckte sie in den Gurt. 

   Sara sprach ihr Mut zu: »Glaub felsenfest, Miri: Wir werden gerettet! Halte durch, bis Helfer kommen! Wir müssen unbedingt vom kaputten Schiff wegschwimmen, bevor es umkippt und versinkt!« 

   Die beiden zogen ihre Schuhe aus. Gleich rannten sie zu einer Öffnung der Reling hin und stellten sich an den Schiffsrand. Ein starker Wind kam auf. Jäh hörte man einen Krach, da jemand die Lukentür des Laderaums aufbrach. 

   Miriam vernahm den Lärm der panikartig an Deck strömenden Flüchtlinge. Sie sah nicht mehr, was mit jenen Menschen geschah, denn Sara forderte zitternd: 

   »Nimm all deinen Mut zusammen! Jetzt springen wir ins Wasser!« Sie zählte: »Eins, zwei, drei, los!« Dann schnellte sie ab und ließ sich hinabfallen. 

   Miri zitterten die Knie. Da ihr keine Zeit blieb, stürzte sie sich hinter der Mutter in die kalten Fluten. 

 

 

Dank des Schwimmgürtels landete sie sacht im kühlen Nass. Ein Schauer durchrieselte sie. Gleich erwärmte sie sich mit kräftigen Schwimmbewegungen. 

   Sara spornte Miriam an. »Schwimm weiter so tüchtig, Miri!« 

   Wie tief und unbegrenzt erschien das Meer! Zügig schwammen die beiden vom Schiffswrack weg. Die Kleider behinderten ihre Bewegungen kaum. Ohne je zum sinkenden Wrack zurückzuschauen, schwammen sie vorwärts, ins Ungewisse. Trotz der Lebensgefahr bewahrten sie Mut und Vertrauen. 

   Nach etwa einer Stunde legte Sara eine Verschnaufpause ein. Sie strich sich übers nasse Haar und fragte ihre Tochter: »Weißt du, ob wir in Richtung Europa schwimmen?« 

Miriam schaute sich um. Wie konnte man sich nur orientieren, mitten auf hoher See, wenn man nichts anderes sah als nur das Meer und den Himmel? Sie warf einen Blick zurück. Weit weg sah sie das Schiffswrack aus dem Wasser ragen. In der Ferne entdeckte sie die undeutlich sichtbare afrikanische Küste. Nun kannte sie sich aus. 

   »Mama, wir schwimmen in die richtige Richtung. Schau! Dort ist Afrika. Gegenüber müsste Europa sein.« 

   Sara war erleichtert. »Miri, du bist klug. Ja, vor uns, weit weg, liegt Italien!« Plötzlich tat sie einen tiefen Atemzug. »Au!«, stöhnte sie. 

   »Was ist, Mama?«, sorgte sich das Mädchen. 

   »Das Baby in meinem Bauch hat mich sanft geboxt.« Sara lächelte wehmütig. Gleich legte sie sich wieder aufs Wasser und schwamm in Richtung Norden weiter. 

   Miri folgte ihr, in einem knappen Abstand. Nach einiger Zeit wurde sie von Müdigkeit übermannt. Die Schnur, die ihren Schwimmgürtel mit jenem der Mutter verband, bewahrte sie aber davor, zurückzubleiben. Sie fror und zitterte, denn das Meer war zur Frühlingszeit ziemlich kühl. 

   »Mama, mir ist so kalt!«, rief Miriam. 

   Sara schwamm zu ihr hin. Sie öffnete die Wasserflasche, hielt sie ihr an den Mund und ließ sie trinken. Danach erst stillte sie ihren eigenen Durst. Schließlich rieb sie die Hände des Kindes warm. 

   »Miri, bleib stark!«, sagte sie. »Die Kälte ist zwar arg, aber wenn du dich kräftig bewegst, wird dir wärmer.« 

   »Mama, du hältst so gut durch, obwohl du schwanger bist!«, staunte die Kleine und strampelte mit den Beinen. 

   »Das Baby wärmt mich«, erklärte Sara. »So werde ich es lang im Wasser aushalten – so lang, bis die Seenotrettung uns findet!« 

   Miriams blasses, von nassen Strähnen umgebenes Gesicht heiterte sich leicht auf. Da sich die Mutter wieder in Bewegung setzte, folgte sie ihr tapfer. Dabei wiederholte sie oft monoton: »Wir schaffen es! Bald werden wir gerettet – bald!« 

   Eine weitere Stunde verstrich. Immer noch war keine Hilfe in Sicht. Wortlos betend, schwamm Miriam im blauen Meer hinter ihrer Mutter her. Wenn bisweilen große Fische auftauchten, fürchtete sie, es könnten gefährliche Haie sein. Allmählich erlahmten ihre Kräfte. 

   Sara bemerkte es mit Sorge. »Liebling, schwimm!«, rief sie. »Lass dich nicht von mir ziehen!« Da das Kind nicht reagierte, mahnte sie erneut: »Gib nicht auf, Miri! Du erfrierst, wenn du dich nicht rührst. Glaub mir: Bald kommen Helfer!« 

   Jener Zuspruch gab Miriam wieder Kraft, weiter zu schwimmen. Die Übermüdung versetzte sie in einen Dämmerzustand. Ein Blick zum Himmel zeigte ihr eine graue Wolkenwand. Die kleine Schwimmerin vermied es, aufs unendlich weite Meer zu schauen. Sie beobachtete lieber die neben ihr vorbei huschenden Fische. Wie sehr klammerte sie sich an die Hoffnung auf baldige Rettung! 

   Nach dreistündigem Aufenthalt im Wasser hatte Miriam keine Kraft mehr. Sie erlahmte völlig. Reglos auf der Meeresoberfläche liegend, überließ sie sich ganz Saras Führung. Wellen überspülten oft ihr Gesicht. Wie bitter, salzig schmeckte das Meerwasser! 

   Sara sorgte sich ernsthaft um ihre kleine Tochter. Sie beobachtete mit Bangen, wie deren Hände und Füße unter Wasser bläulich schimmerten. Oft rief sie: 

   »Miri, beweg dich! Sprich wenigstens etwas!« 

   Doch das Mädchen trieb fast reglos am Meer und antwortete nicht mehr. 

   Nach einer Weile hielt die Mutter mit dem Schwimmen inne, um dem Kind erneut Mineralwasser einzuflößen. »Kopf hoch, Liebling!«, sagte sie mitfühlend. »Halte dich am Rettungsring fest, damit du nicht herausrutschst und im Wasser untergehst!« 

   Nachdem sie selbst auch getrunken hatte, schwamm die Syrerin, mit Miriams Schwimmreifen verbunden, in Richtung Europa weiter. Die Mutterliebe verlieh ihr eine ungeahnte Kraft. Sie hatte den eisernen Willen, ihre geliebten Kinder zu retten. 

Saras unermüdliche Zurufe hielten Miri halbwach. Völlig erschöpft, zitternd vor Kälte, ließ sie sich von ihrer Mutter vorwärts ziehen. Immer wieder spuckte sie prustend und hustend Salzwasser aus. 

   Mit der Zeit lichtete sich der Himmel. Die Sonne erwärmte den kräftigen Wind. Endlich tauchte in der Ferne ein Motorboot auf. Am gewogten blauen Meer fuhr es rasch auf die Schwimmerinnen zu. 

   Als Sara das Boot entdeckte, streckte sie einen Arm in die Höhe. 

   »Hilfe! Hilfe!«, schrie sie markerschütternd. 

   Da überwand Miriam ihre Erschöpfung. Sie richtete sich auf und stimmte in die verzweifelten Hilferufe ein. 

 

Die Retter hatten die beiden schon gesichtet und die Bootsscheinwerfer auf sie gerichtet. Da das Motorboot direkt auf sie zusteuerte, jubelte Sara: 

   »Wir sind erlöst! Wir haben es geschafft!« 

   Wie erleichtert waren Miri und ihre Mutter, als die Wasserrettung bei ihnen ankam! 

   Zwei kräftige Männer, ein Europäer und ein Afrikaner, riefen auf Englisch: »Hallo, gleich helfen wir euch!« Sofort stiegen sie über Leiterstufen zum Wasser hinunter. Sie fassten die Verunglückten an den Händen, zogen sie aus dem Meer und hoben sie ins Boot hinein. 

Miriam fühlte sich schwindelig. Sie lehnte sich an die Reling. Die Helfer überreichten ihrer Mutter Frotteetücher und warme Jogginganzüge. 

    »Ihr dürft die Sachen behalten!«, sagte der Europäer, mit italienischem Akzent. »Wir schenken sie euch.« 

   Sara rubbelte ihre kleine Tochter mit dem Handtuch ab und half ihr, sich umzuziehen. Danach erst kümmerte sie sich um sich selbst. Wie angenehm wärmte die trockene Kleidung! 

 

Die Retter wrangen die triefnassen Kleider aus. Dann führten sie Miri und ihre Mutter zu Liegestühlen, betteten sie darauf und deckten sie mit Wolldecken zu. 

   Während sich der Italiener ans Steuerrad stellte, um das Boot in Bewegung zu setzen, ging sein Kollege in die Kajüte. Wenig später kam er mit Tassen voll dampfendem Tee zurück. 

   »Liebe Leute«, sagte er auf Arabisch, »nun werdet ihr gut verpflegt.« 

   Er half Miriam, sich aufzurichten. Da sie zu klamme Finger hatte, um die Trinkschale selber zu halten, flößte er ihr den Tee ein. Miri schlürfte durstig das köstlich nach Pfefferminz schmeckende Getränk. Daraufhin bürstete der Sanitäter ihre nassen zerzausten Locken. Bevor er sie wieder bettete, rieb er ihre Füße warm und hüllte sie in Socken. 

   Eine Weile später brachte der Helfer den Flüchtlingen Bananenkuchen. 

   »Fahren wir nach Europa?«, fragte Miriam auf Arabisch. 

   Der Afrikaner nickte. »Ja! Wir bringen euch zu einer Insel.« 

   Miri sah ihn an. »Du und dein Kamerad, ihr habt mir und meiner Mutter das Leben gerettet. Tausend Dank, lieber Herr!« 

   Dieser umfasste ihre freie Hand. »Wir zogen euch beide wie Fische aus dem Meer!« 

Die freundliche Behandlung erwärmte Miriam innerlich und äußerlich. Kaum hatte sie den Kuchen gekostet, wurde sie von Schlaf übermannt. 

   Der Sanitäter gesellte sich zur Schwangeren. »Ich nehme an, ihr seid Flüchtlinge?«, fragte er. »Ist euer Schiff gekentert?« 

   Sara nickte. Wegen ihrer Erschöpfung berichtete sie nur das Wichtigste über den Schiffbruch. 

   Danach ergriff der Helfer sein Handy, wählte die Nummer der italienischen Küstenwache und meldete: »SOS, SOS! Im Mittelmeer, zwischen Lampedusa und Afrika, ist ein Flüchtlingsschiff verunglückt! Sendet Rettungsboote aus, erkundet das Terrain! Rettet so viele Menschen wie möglich!« 

   Er fragte Miriams Mutter: »Wissen Sie, wo die anderen Passagiere sind?« 

   Diese schüttelte den Kopf: »Nein, leider! Zuerst wagten wir keinen Blick zurück. Als wir uns später umgesehen haben, war nichts anderes mehr zu sehen als das kaputte Wrack im Meer.« 

   Nun entfernte sich der Sanitäter. Sara legte sich bequem hin. Vor Erschöpfung fiel sie, ebenso wie ihr Töchterchen, in einen tiefen Schlaf. Die Sonne beschien die Gesichter der Schlafenden und trocknete ihr Haar. Inzwischen glitt das Boot sicher über die blauen Meereswellen. 

   Nach einer geraumen Weile erwachte Miriam. Sie streckte sich, atmete tief und sah, dass ihre Mutter noch schlief. Augenblicklich besann sie sich darauf, bald in Europa anzukommen. Abrupt reckte sie sich hoch. Beim Blick aufs Meer entdeckte sie in der Ferne steil abfallende, kaum begrünte Klippen. Das Rettungsboot steuerte langsam auf jene Insel zu. 

   Miriam hüpfte auf und rüttelte Sara wach. »Mama, wir sind da! Wir sind in Europa! Von nun an müssen wir keine Angst mehr haben: vor Bomben, Soldaten, vorm Versinken und Ertrinken!« 

   Die Schwangere richtete sich mühsam auf. »Meine Miri!«, rief sie aus. »Wir kommen in Europa an, wo es einem nur gutgehen kann!« Jäh krümmte sie sich. »Au! Ich glaube, in meinem Bauch strampeln mehr als nur zwei Babybeinchen.« 

   In jenem Augenblick traten die Helfer heran. Sie übergaben Sara einen Sack mit der nassen Kleidung. Der Italiener steckte die Schnur hinein, die die Schwimmreifen der Geretteten verbunden hatte. 

   Der Afrikaner fragte: »Fühlt ihr euch kräftig genug? Seid ihr bereit? Bis zum Flüchtlingslager ist es nicht weit. Ihr braucht nur ein paar Meter die Böschung hinaufzugehen.« 

   Sara erhob sich behäbig. »Wir schaffen es schon«, versicherte sie. »Komm, Miri!« 

Die Retter stützten die beiden an den Armen. Sie führten sie über eine Landebrücke ans steinige Ufer. Dort verabschiedeten sich alle herzlich voneinander. 

 

Miriam zog ihre Socken aus und steckte sie in den Sack, den die Mutter trug. Barfuß konnte sie besser laufen. Sie schaute sich um. Gleich einem Willkommensgruß leuchtete die Sonne strahlend hell. Vom Inselrand aus sah man schon das Flüchtlingslager, in dessen Gelände sich zahllose Menschen tummelten. Der meterhohe Drahtzaun, der es umgab, trübte Miriams Freude nicht. 

   »Wir sind in Europa, weit weg vom Krieg!«, rief sie mehrmals, während sie an Saras Hand die niedrige, steile Böschung hinaufstieg. 

   Unweit des Lagers kam ein uniformierter junger Soldat auf die Ankömmlinge zu. Er murmelte unverständliche Worte. Mit einer einladenden Geste forderte er die beiden auf, ihn zu begleiten. Gleich führte er sie durch eine Gittertür ins Lagergelände hinein. 

   Sara und ihr Töchterchen folgten ihm. Sie schritten an einer Menge von Flüchtlingen vorbei. Viele standen in Gruppen beisammen. Andere flanierten. Die übrigen betrachteten, auf Pritschen sitzend, das Meer. Miriam lief hinter ihrer Mutter her, bis zu einer niedrigen Halle. 

   Kaum hatten sie diese betreten, befahl der Englisch sprechende Soldat: 
   »Madam, zeigen Sie mir Ihre Papiere: Pass, Geburtsurkunde …« 

   Sara bekam vor Aufregung rote Ohren. »Wir besitzen keine Dokumente mehr«, erklärte sie auf Englisch. »Beim Schiffbruch haben wir alles verloren – außer dem, was wir am Leibe trugen.« 

   Der Soldat reagierte verständnisvoll. »Das kommt oft vor. Besorgen Sie aber rasch Ersatzpapiere!« 

   Miriam umklammerte Schutz suchend die Hand ihrer Mutter. Sie verstand kein Wort. Im Wintersemester der ersten Volksschulklasse hatte sie nicht Englisch gelernt. Überdies war der Unterricht wegen des Krieges oft entfallen. 

   In jenem Augenblick kam ein Herr mit schwarz gelocktem Haar auf die Neuankömmlinge zu. Er redete die kleine Syrerin in ihrer Muttersprache an. »Hallo! Ich bin Mario, der Lagerleiter. Wie lautet dein Name, und woher stammst du?« 

   »Ich heiße Miriam, bin sieben Jahre alt und komme aus Damaskus«, antwortete das Kind mit klarer Stimme. 

   Der Betreuer stellte den beiden eine Menge Fragen. Danach schrieb er ihre Namen und Geburtsdaten auf einen Ersatzausweis. Am Ende überreichte er ihnen je einen Schlafsack. 

»Ihr müsst auf der Wiese des Lagers übernachten«, meinte er. »Zum Glück ist das Wetter heiß. Im Haus sind alle Betten belegt.« 

   Nach den turbulenten Abenteuern jenes Tages fühlten sich Miriam und ihre Mutter unendlich müde. Plötzlich entschlüpfte Sara ein lauter Seufzer. Sie griff sich an den Bauch, da die Wehen begannen. 

   »Ich glaube, das Baby will schon zur Welt kommen! Was machen wir nur?«, rief sie erschrocken aus. 

   Miriam sah sie sprachlos an. 

   Der Flüchtlingshelfer beruhigte sie: »Nur keine Panik!« 

Sofort führte er die Schwangere und ihr Töchterchen in einen weniger bevölkerten Raum. Dort setzten sich die beiden auf eine Bank, die Schlafsäcke als Sitzpolster benutzend. Mario alarmierte mit seinem Handy die Rettung. 

Ein ungewöhnlicher Rettungseinsatz

 

Zehn Minuten später hörte man die Sirene des Rotkreuz-Wagens. Kurz darauf erschienen zwei Rettungsmänner mit einer Trage. Mario winkte sie mit erhobenen Armen herbei.

Die Sanitäter erkannten blitzschnell die Lage. Sie neigten sich der gekrümmten Schwangeren zu. Einer von ihnen legte ein Hörrohr an Saras kugelrunden Bauch.

Er horchte eine Weile. Dann sagte er: »Ich höre die Herztöne zweier Babys. Normalerweise bekommen Flüchtlingsfrauen ihre Kinder im Lager. Bei Mehrlingsgeburten ist es aber lebensgefährlich! Liebe Frau, wir bringen Sie sofort in ein Spital. Wir werden Spender bitten, die Behandlung zu bezahlen.« Sofort ergriff er sein Handy und telefonierte.

Sein Kollege kümmerte sich um die werdende Mutter. In der Aufregung beachtete niemand das daneben sitzende Mädchen. Eben zog Miri ihre Socken über die Füße. Da sie sich bückte, bedeckten braune Locken ihr Gesicht. 

   Eine Weile später hörte man Hubschraubergeräusche. Gleich legten die Sanitäter die Schwangere auf die Tragbahre. Diese rief mit matter Stimme ihr Töchterchen herbei.

 

Da man Sara forttrug, überkam Miriam große Furcht, unbegleitet im fremden Lager zurückzubleiben. Schnell wie der Blitz lief sie den Rettungsleuten nach. 

   »Nehmt mich mit!«, schrie sie. »Lasst mich nicht allein! Ich will bei Mama sein!«

Die Männer verstanden zwar ihre arabischen Worte nicht, aber sie begriffen die Angst eines Kindes, seine Mutter zu verlieren. Also hielten sie an, winkten das Mädchen herbei und riefen auf Englisch: »Come here!«

   Als Miriam bei der Tragbahre und ihren Trägern ankam, seufzte Sara auf. »Gott sei Dank! Da bist du ja, Kindchen.«

   Miri blieb dicht an ihrer Seite. Es machte ihr nichts aus, das unbequeme Lager zu verlassen! Wie sehr freute sie sich auf das Geschwisterchen, das bald zur Welt kam!

Nachdem das hohe Gattertor des Asyls hinter ihr zugefallen war, empfand Miriam, trotz ihrer Sorgen, ein Gefühl der Freiheit. Sie streckte die Arme dem Himmel entgegen.

Auf der nahen Wiese stand der Hubschrauber bereit, dessen Propeller sich langsam drehten. Miri, deren Haare kräftig wehten, stieg als Erste ein. Sara folgte, mit der Unterstützung der Sanitäter.

   Kurz darauf erhob sich der Rettungshubschrauber mit ohrenbetäubendem Geräusch in die Luft. Bald bot sich ein herrlicher Ausblick aus dem Fenster. Von oben sah die Insel sehr klein aus. Als sie außer Sichtweite geriet, sah man nur mehr den Himmel und das tiefblaue Meer. Miri saß neben den Sanitätern. Die Mutter lag gegenüber, auf einer Bank. Man hörte ihre geräuschvollen tiefen Atemzüge.

   Minuten vergingen. Unversehens hielt ein Rettungsmann Miriam fest, englische Sätze murmelnd. Sara erklärte, der Hubschrauber käme jetzt in Sizilien an. Das Mädchen schaute aus dem Fenster und entdeckte eine große Insel.

   Der Helikopter senkte sich immer tiefer. Bald landete er geräuschvoll am Dach des Krankenhauses der Stadt Catania.

 

Die Sanitäter halfen Sara beim Aussteigen und setzten sie auf einen fahrbaren Stuhl. Miri hüpfte allein aus dem Hubschrauber. Während ein Rettungsmann den Rollstuhl schob, ging sie neben ihrer Mutter her.

   Ein Aufzug brachte die drei ins untere Geschoß. Der Weg zur Geburtenstation war nicht weit.

   »Mama, hoffentlich darf ich bei dir im Spital bleiben!«, sorgte sich das Mädchen. »Wo sollte ich denn sonst wohnen?«

   »Ja, Miri! Übernachte bei mir, damit ich dich nicht verlier!« Sara umklammerte die Hand ihres Töchterchens.

   Eine dunkelhäutige Pflegerin hatte ihnen zugehört. Sie erklärte kopfschüttelnd, die Unterbringung von Kindern im Spital sei nicht erlaubt! Da erschrak Miriam sehr.

   Der Sanitäter rief ihr beruhigende Worte zu, während er Saras Rollstuhl zur Tür des Kreißsaals hinschob. Die Mutter übersetzte, was er sagte: 

   »Sei unbesorgt! Ich bringe dich ins Flüchtlingslager von Catania. Dort wirst du gut versorgt, bis die Mama mit den Babys nachkommt.«

   Sara fiel der Abschied schwer. Fest umarmte sie ihr Kind.

   Miri schluchzte. »Ich will bei dir bleiben! Was ist, wenn ich dich nie mehr wiedersehe?«

   Die Mutter gab ihr den Sack mit der nassen Kleidung. Dabei entnahm sie den dicken Bindfaden, der Miriams Rettungsring mit dem ihren verbunden hatte. Zitternd knotete sie die Enden zusammen. Dann legte sie das Band um den Hals des Kindes.

   »Mein Liebling«, sagte sie sanft. »Behalte diese Schnur als deinen Talisman! Sie wird uns wieder zusammenführen. Lege sie immer an, wenn du traurig bist oder wenn Gefahr droht. Sie hat dir das Leben gerettet und –«

   Ein plötzlicher Schmerz hinderte Sara daran, weiterzusprechen. In diesem Moment kam eine Hebamme herbei und führte sie in den Kreißsaal hinein.

   Vor der kleinen Waise schloss sich eine große breite Tür. Vergeblich versuchte sie, diese zu öffnen. Verzweifelt schaute sie sich um. Zum Glück war der Sanitäter noch da!

   »Come here!«, sagte er.

   Miriam verstand die Aufforderung, blieb aber wie angewurzelt stehen. War alles nur ein böser Traum? Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie von ihrer Mama getrennt, obendrein in einem fremden Land, auf einem fremden Kontinent! Tränen liefen über ihre Wangen. Sie fühlte sich schwindelig und benommen. Seit dem Imbiss am Rettungsboot hatte sie keine Nahrung mehr bekommen. 

   Da ergriff der Sanitäter ihre Hand und zerrte sie fort.

 

Beim Verlassen des Spitals strahlte die Sonne am klaren Himmel, als wolle sie die Herzen der traurigen Menschen trösten. Miriam hatte kaum Zeit, den Sonnenschein zu betrachten. Der Sanitäter hob sie in ein Rettungsauto hinein und setzte sie auf den Vordersitz. 

Sofort startete der Mann den Wagen. Er lenkte ihn voll Umsicht, ohne Blaulicht, über breite Straßen. Während der Fahrer fröhlich pfiff, schaute Miri aus dem Fenster. Unweit der Fahrbahn leuchteten die bunten Blumen der Sträucher und Wiesen. Dahinter sah man einen Bergriesen, der sich wie ein Wahrzeichen über der Insel erhob. Jene schöne Aussicht brachte Miriams Tränen zum Versiegen. Bald hielt der Rettungswagen vor einem hohen Metallzaun.

   Der Sanitäter hüpfte aus dem Auto und half dem Kind beim Aussteigen. »Here we are«, sagte er.

   Miriam roch den Duft der nahen Zitronenbäume. Ihr erster Blick galt dem Flüchtlingsterrain, das einem Dorf glich. Dort standen viele niedrige Häuser mit buntem Anstrich.

   Schweigend ließ sich Miri durchs Gittertor in das mit Menschen überfüllte Lagergelände hineinführen. Der Rettungsmann schritt mit ihr zum Heimleiter hin. Er übergab ihm einen Zettel mit Miriams Namen und der Klinikadresse ihrer Mutter.

   Gleich verabschiedete er sich. »Arrivederci!«

 
 

Im Flüchtlingsheim der Insel 

 

Der schlicht gekleidete Lagerbetreuer sprach das zitternde Kind auf Arabisch an. »Jetzt nehme ich mir Zeit für dich, liebes Mädchen.« 

   Durch jene freundlichen Worte ermutigt, fragte Miriam: 

»Hätten Sie bitte etwas zu Trinken und zu Essen für mich? Ich habe großen Durst und einen Bärenhunger!« 

   Der Betreuer schmunzelte. »Du siehst aber nicht wie ein Bär aus. Gedulde dich. Bald bekommst du eine Mahlzeit.« 

   Wie froh war Miri darüber, dass der Herr Arabisch sprach! Ihre Angst ließ nach. Dennoch fühlte sie sich schwindelig. 

   »Heißt du Sara Salib?«, fragte der Mann. 

   Das Mädchen schaute zu ihm auf und schüttelte verneinend den Lockenkopf. »Nein! Das ist der Name meiner Mutter. Ich bin Miriam Salib.« 

   »Ach so!« Der Heimleiter reichte ihr die Hand. »Komm! Ich zeige dir deine Schlafstelle.« 

   Er führte sie zu einem riesigen, schmucklosen Raum. Bang, mit knurrendem Magen, betrat Miri den Saal, wo viele Menschen auf Betten saßen oder lagen. Der Betreuer schritt zu einem hohen, mit einem Wandschirm versehenen Etagenbett hin. An dessen Randleiste befestigte er ein Schild mit dem Namen »Salib«. 

   Miriam warf ihren Sack wie einen Ball zum oberen Stockbett hinauf. Sie schlüpfte aus ihren erdigen staubigen Socken und kletterte empor. Dann schaute sie zufrieden hinab. 

   »Das Lager gefällt mir«, bemerkte sie. »Ich habe noch nie so hoch in der Höhe geschlafen. Unten werden meine Mutter und die Babys liegen. Ach! Wären sie doch schon hier!« Sie zog die nassen Kleider aus dem Sack heraus und hängte sie über die obere Bettleiste. 

   Nun befahl der Herr: »Komm her! Ich zeige dir die Waschräume, die Küche und den Speisesaal.« 

 

Miriam fühlte sich schwach vor Hunger. Als sie die oberste Leitersprosse betrat, um herab zu klettern, wurde ihr so schwindelig, dass sie wie ein Plumpsack herunterfiel. Hätte der Betreuer sie nicht aufgefangen, so wäre sie hart am Boden gelandet. 

   Während er sie in seinen Armen hielt, fragte er: »Wie geht es dir? Was hast du?« 

   »Alles hat sich gedreht«, flüsterte Miri. »Ich bin so hungrig!« 

   Vorsichtig stellte der Lagerleiter das Mädchen auf den Boden. »Da gibt es nur ein Heilmittel: gleich Proviant zu besorgen. Übrigens, nenn mich einfach Tonio!« 

   Am Weg zur Kantine erfrischte sich Miriam in einem Waschraum. Bei der Ankunft im Speisesaal strömte ihr Essensduft entgegen. Dort verteilte man bereits das Mahl. 

Da sich Miri in der Wartereihe anstellte, verabschiedete sich der Herr: 

   »Guten Abend, kleine Dame! Mach’s gut!« 

   »Darf ich morgen meine Mutter im Spital besuchen?«, fragte das Mädchen noch schnell. 

   Tonio schüttelte den Kopf. »Leider nein! Bleib hier, im sicheren Heim, bis deine Mama mit dem Baby zurückkehrt!« 

   Enttäuscht bedeckte Miriam ihr Gesicht mit den Händen. Als sie sich wieder umsah, war der Betreuer verschwunden. 

   Zum Glück musste sie nicht lange warten, um ein großes Glas Wasser und eine Portion Pastasciutta zu bekommen. Sie trug die Speise zu einem Tisch, an dem braunhäutige Flüchtlinge saßen. 

   Miri trank das Wasserglas leer. Hungrig und schweigend, ohne die Sprache der Tischnachbarn zu verstehen, aß sie ihre delikate Mahlzeit. Vor Müdigkeit nahm sie ihre Umgebung kaum wahr. 

   Nach dem Essen schleppte sie sich in den noch hellen Schlafraum. Mit letzter Kraft stieg sie auf ihr Stockbett empor. Sie legte sich nieder, zog die Decke bis übers Ohr und schlief sofort ein. 

 

Als Miriam am nächsten Tag erwachte, schien die Sonne durchs hohe Fenster herein. Sie rieb sich die Augen und überlegte: »Wo bin ich nur?« Ihre Hand griff nach der Schnur ihres Halsbands. Jetzt erinnerte sie sich wieder an die Ereignisse des Vortags. Aufrecht stellte sie sich aufs Bett. Von dort aus hatte man einen guten Überblick über den zurzeit wenig bevölkerten Saal. Sein einziger Schmuck war eine lange Reihe hoher Fenster. Sie boten eine gute Aussicht auf die sonnenbeschienene Wiese des Lagers. 

   Unvermutet rasselte eine Klingel. Das Geräusch kam aus der Richtung des Speisesaals. In Windeseile wechselte Miriam ihr Gewand und kletterte vom Bett herab. Ihr blaues Kleid wärmte weniger als der Trainingsanzug. Daher schlüpfte sie gleich in ihre Wollsocken. 

Miri eilte in den Waschraum. Dort lagen Zahnbürsten zur Verwendung bereit. Sie wusch sich mit viel Seifenschaum. Zum Duschen blieb keine Zeit. Da sie weder Kämme noch Bürsten fand, rannte sie unfrisiert in den Speisesaal. 

   Zu ihrem Erstaunen hatte die Klingel nicht zum Frühstück, sondern schon zum Mittagessen aufgerufen. Nachdem Miriam ihre Portion Gemüse geholt hatte, setzte sie sich zu einer Familie an den Tisch. 

   Ihre Banknachbarin, ein dunkelhäutiges zehnjähriges Mädchen, fragte auf Arabisch: 

»He, du! Warum bist du allein? Wo sind denn deine Eltern?« 

 

Die kleine Waise erwiderte ihren freundlichen Blick. 

   »Meine Mutter ist in der Klinik; sie bekommt ein Baby. Mein Vater wurde vor einigen Monaten im Krieg erschossen.« 

   Die junge Tischnachbarin war einen Moment lang betroffen. Dann lächelte sie wieder. »Es freut mich, dich kennenzulernen! Ich bin Soraya, und wie heißt du?« 

   Miri nannte ihren Namen. 

   Sorayas Mutter lud liebenswürdig ein: »Miriam, leiste uns oft Gesellschaft! Magst du mein halbes Dessert?« 

   Diese nahm die Gabe gerne an. Während sie den Kuchen aß, bürstete die Dame ihr zerzaustes Haar. 

   Danach unterhielten sich die zwei neuen Freundinnen gut. Lange Zeit spielten sie miteinander. 

 

Tage und Stunden vergingen. Das Wetter blieb warm, sodass niemand im Flüchtlingsheim fror. Auch bei heiterem Sonnenschein konnte die Waise nicht unbekümmert sein. Würde die Mutter wirklich ins Lager, zu ihr, nachkommen? Tag und Nacht trennte sich Miriam nicht von ihrer Talismanschnur, die sie als Halsschmuck trug. 

   Sooft sie Tonio traf, fragte sie: »Kommt heute meine Mama mit dem Baby?« 

   Dann tröstete er immer: »Kleine Dame, mach dir keine Sorgen! Vielleicht kommt sie morgen?« 

 

Nachdem eine Woche verstrichen war, wurde Miriam des Wartens müde. Eines Tages, während des Frühstücks, kaute sie lustlos an einem Brötchen herum und seufzte oft. 

Soraya versuchte sie aufzuheitern. »Willst du mit mir spazieren gehen?« 

 

Miri sah die Haustür einladend offenstehen. »Ja, gern!«, willigte sie ein. 

Bald verließen die Mädchen das Haus. Ziellos schlenderten sie über die sonnenbeschienene Wiese. Sie kamen an vielen Menschen vorüber, die auf Bänken saßen oder umherwanderten. Hinter hohen Palmen entdeckten sie meditierende Frauen, unter denen sich Sorayas Mutter befand. Die Freundin nahm die Waise an der Hand und schlich sich mit ihr zu ihnen hin. 

   Im nächsten Moment lag Miriam, wie die andern, auf den Knien, den Kopf zur Erde neigend. Unentwegt flehte sie: »Lieber Gott, bitte hilf, dass meine Mama bald mit dem Baby zu mir zurückkommt!« 

   Plötzlich fühlte sie eine Berührung an der Schulter. Als sie sich aufrichtete, erblickte sie ihre geliebte Mutter. 

   Diese grüßte: »Hallo Miri, mein Liebling!« 

   Voll Freude umarmten sich die beiden. Miriam schaute sich um. Doch was sie suchte, fand sie nicht. Nirgends war ein Neugeborenes zu sehen. 

   Erschrocken fragte sie: »Mama, wo ist denn unser Baby? Ist gar ein Unglück geschehen?« 

   »Sei unbesorgt!«, beruhigte Sara, lächelte einen Augenblick lang und presste dann die Lippen zusammen. »Bald fährst du mit mir zur Klinik. Dort wirst du alles sehen.« 

   Miri wunderte sich. »Was werde ich denn sehen? Ist es ein Brüderlein oder ein Schwesterlein?« 

   »Ein Mädchen ist es nicht.« Die Mutter schmunzelte. 

   »Also habe ich einen Bruder«, freute sich Miri. 

   »Einen? Lass dich überraschen!« Sara setzte sich auf eine im Palmenschatten stehende Bank. Sie wirkte verhältnismäßig schlank; die Jacke des Trainingsanzugs war ihr viel zu weit. 

   Miri streckte jubelnd ihre Arme nach oben. »Bald besuche ich mein Brüderlein. Dann darf ich raus aus dem Lagergefängnis!« 

   Die Mutter betrachtete die Kleine, ihr frisch gewaschenes Kleid und ihre funkelnden Augen. 

   »Liebling, wie gut hast du die Trennung verkraftet!« 

   »Ich zeige dir das Flüchtlingsheim. Mama, sei so lieb und komm mit mir mit!« 

   Diese erhob sich sogleich. Während Soraya unter den Palmen blieb, spazierten Miriam und ihre Mutter Hand in Hand im Lagergebiet umher. 

 

Am folgenden Morgen beim Frühstück fragte Sara ihr Töchterchen: »Willst du am Vormittag mit mir die Babys besuchen? Tonio gab mir Busfahrkarten für dich und mich.« 

Miriam war natürlich einverstanden. Sie trank ihren Kakao in großen Zügen leer und machte sich voll Fröhlichkeit zum Fortgehen bereit. 

   Wie glücklich und frei fühlte sie sich beim Verlassen des Lagergeländes! Zitronenduft atmend, richtete sie ihren Blick zum Horizont. Die Sonne schien strahlend warm, als freue sie sich über Miriams Glück. Eine kräftige Brise ließ Federwolken wellenförmig am Himmel tanzen. In der Ferne sah man den mächtigen Berg. 

   Miri und ihre Mutter wanderten an schmucklosen Häusern vorbei zur Busstation hin. Nach einer kurzen Wartezeit stiegen sie in einen staubigen, grünen Bus ein. 

Im ratternden Fahrzeug stehend, fragte Miriam: »Mama, sind wirklich alle unsere Sachen mit dem Schiff untergegangen? Treibt meine Lieblingspuppe jetzt im Meer?« 

   »Ja!«, seufzte Sara. »Alles ist weg: das ganze Gepäck und die Wertsachen. Aber die Hauptsache ist: Wir haben überlebt und sind dem Krieg entkommen. Bald finden wir in Europa eine bessere Heimat.« 

 »Wo es einem nur gutgeht«, ergänzte Miriam. 

   Dann schwiegen die beiden, denn Fahrgäste baten um Ruhe. 

   Zehn Minuten später hielt der Bus nahe beim Krankenhaus. Mutter und Tochter stiegen aus. 

 

Gleich eilten die beiden zur Säuglingsstation. Dort wanderten sie einen langen, mit drolligen Babyfotos geschmückten Gang entlang bis zu einer Glastür. 

Eine Säuglingsschwester empfing sie freundlich. Sara übersetzte ihrem Kind die englische Begrüßung. 

   »Du bist also die Schwester unserer lieben Drillinge. Ich freue mich über deinen Besuch.« 

   Miri war sprachlos vor Staunen, mit einem Schlag drei Brüder bekommen zu haben. Vor Freude hüpfend, eilte sie an Saras Hand zu drei offenen, gläsernen Wärmebettchen hin. 

   »Schau, Miri«, sagte Sara. »Sind die Babys nicht süß?« 

   »Ja, wie Engelchen vom Paradies«, flüsterte das Mädchen. »Wie heißen sie denn?« 

   »Im blauen Bettchen liegt Samuel, im gelben Raphael und im grünen Daniel.« Sara zeigte hin. 

   Miriam betrachtete still ihre zarten Brüder, wie sie die rosigen Köpfchen leicht bewegten. 

Da fing Raphael an, vor Hunger zu schreien. Die Schwester hob ihn aus dem Bett, hüllte ihn in eine Decke und überreichte ihn seiner Mutter. 

 

Sara gab Miri einen Wink, ihr zu folgen. Sie begab sich in einen Erholungsraum, setzte sich auf einen Lehnstuhl und stillte den Kleinen. Sofort hörte er auf zu weinen. Inzwischen blätterte Miriam auf einem Sessel hockend ein Buch durch. 

Nach einer Weile kam die Schwester mit einem schreienden Säugling herein. Sie rief auf Englisch: »Bald kommen Pressereporter! Sie haben erfahren, dass Drillinge geboren wurden. Das finden sie sensationell.« 

   Die weiß gekleidete Frau schritt schnell zu Miriam hin und übergab ihr Samuel. Zugleich drückte sie ihr ein Fläschchen in die Hand. Geduldig zeigte sie, wie man Babys hält und füttert. Miri stellte sich geschickt an. Entzückt beobachtete sie den Kleinen, wie er sog und schmatzte. 

   »O Samuel, wie lieb bist du!«, flüsterte sie. »Du bist mir viel lieber als meine Lieblingspuppe.« 

   Inzwischen verließ die Krankenschwester den Raum. Sie übernahm es, sich um Daniel zu kümmern. 

   Als sie mit ihm zurückkehrte, waren seine Brüderchen schon satt und zufrieden. Sie legte das Baby neben Raphael auf Saras freien Arm. 

Im nächsten Augenblick kamen die Presseleute an. Sie grüßten und bemerkten: »Was für liebe Drillingsbabys!« 

   Miriam musste sich zusammen mit Samuel zur Mutter hinstellen. Die Kinderschwester setzte ihm ein weißes Häubchen auf. Seine Brüder bekamen je ein blaues. Bald trat ein Herr hinzu, schaute durch eine Kamera und machte so viele Fotoaufnahmen, dass es blitzte wie bei einem Gewitter. 

   Nachher kam sein Kollege mit einem Mikrofon auf Sara zu. Ständig an seinem Ohrläppchen zupfend, in einem liebenswürdigen Tonfall stellte er zahllose Fragen auf Englisch. Miriam verstand kaum ein Wort. Sie saß still auf ihrem Kindersessel und wiegte Samuel in den Armen. 

   Nachdem die Reporter fortgegangen waren, legte man die Babys wieder in ihre Bettchen. Sara und ihr Töchterchen blieben bis zum späten Abend im Spital. Miri half ihrer Mutter bei der Pflege der Drillinge. Ihr gefiel es, ihnen Fläschchen zu reichen und dabei die zarten Wangen zu streicheln. Zur Entschädigung erhielt sie in der Klinik köstlicheres Essen als im Flüchtlingslager. 

   Vor dem Aufbruch warf Miriam einen zärtlichen Blick auf die schlafenden Brüder, die sich durch das Geschrei anderer Babys nicht stören ließen. Wie lieb hatte sie die Kleinen. Wie dringend war es, für sie ein richtiges Zuhause zu finden! 

 

Als Sara und ihr Töchterchen das Spital verließen, war es schon nachtdunkel. Nach der Busfahrt, am Fußweg zum Lager, betrachteten die beiden still den sternenübersäten Himmel und den Mond. Im Heim angekommen, legten sie sich schlafen. Bald träumte Miri lebhaft von ihren Babybrüderchen.